Wohlfühlräume für Nerds
27. Juni 2016 – db deutsche bauzeitung 08|2016
Mit repetitiven Elementen und Fassaden aus flachen Ziegelsteinen bezieht sich das schmucke Software-Haus auf das industrielle Gefüge der Stadt, nimmt sich aber auch alle Freiheiten, einen offenen und gleichzeitig ikonischen Ort zu schaffen, ohne dabei Funktionalität und Energieeffizienz außer Acht zu lassen.
Kritik: Falk Jaeger
So geht’s in der IT-Wirtschaft zu. Kaum ist das neue Verwaltungsgebäude des boomenden Software-Entwicklers fertiggestellt, gibt es die Firma schon nicht mehr, resp. ist sie in der des bisherigen Hauptauftraggebers aufgegangen (nicht zum Schaden des Gründers übrigens). Vor dem Sitz der polnischen ERICPOL in Łódź wehen jetzt die Fahnen von Ericsson.
Łódź, die ziemlich in der Mitte Polens gelegene drittgrößte Stadt des Landes, hatte ihre besten Zeiten im 19. Jahrhundert, als sich das »Manchester Polens« zu einem Zentrum der Textilindustrie mit über 500 Fabriken entwickelte. Nach dem Krieg wurden die eindrucksvollen burgenartigen Backsteinfabriken baulich vernachlässigt. Viele standen leer und weitere wurden nach der politischen Wende von 1989 aufgegeben. Noch immer steht man, ähnlich wie in Chemnitz, vor der Herkulesaufgabe, die voluminösen denkmalgeschützten Gemäuer der Reihe nach zu sanieren und neuen Nutzungen zuzuführen.
Einer der profiliertesten Fabrikanten war Karl Wilhelm Scheibler, dessen Neorenaissancevilla an der Hauptachse der Stadt, der historistischen Prachtmeile Piotrkowska, steht. An seinem rückwärtigen Garten angrenzend ein ehemaliges Freibad, auf dessen Areal das Ericpol-Gebäude errichtet wurde. Weitere unmittelbare Nachbarn sind historische Arbeiterwohngebäude des Tymienieckiego Industriequartiers.
Es ist gewiss nicht die Regel, dass ein neues Bürogebäude so achtsam nach den Gegebenheiten der unmittelbaren Umgebung in seine Form gebracht wird. Wo der Baukörper seinen Platz fand, wie er sich gegen die Straße öffnet, wie er gegenüber dem historischen Arbeiterwohnhaus respektvoll zurückweicht, wie er zum Garten hin den Grünraum gleichsam umarmt, wie sich das große Volumen in zwei Trakte teilt, die sich durch Biegung dann doch in einer gemeinsamen Erschließungszone treffen, wie der Bau zwei nach innen wirksame Plazas bildet, all dies ist sorgsam ausgeklügelt, ist eine Qualität für sich und hat wesentlich zum Gewinn des Wettbewerbs beigetragen. Den Bauauftrag bekamen die Architekten von HORIZONE Studio erst, als sie die Einigung mit der Denkmalpflege nachweisen konnten, die bei Bauhöhe, Position, Rückstaffelung und Materialität erheblichen Einfluss geltend machte, aber auch bei unkonventionellen aber qualitätvollen Ideen mitzugehen bereit war.
Die Grundrisse zeigen eine »normale« Zweibundanlage, mit einer Erschließung im Zentrum, wo sich die Flügel treffen. Diese Anordnung ermöglicht eine Unterteilung und flexible, kleinteilige Vermietung des Gebäudes, das von der STRABAG als Investorenprojekt für mehr als 700 Arbeitsplätze errichtet wurde.
Im Zentrum sind auch die mit Akustikglas umfangenen Besprechungsräume angeordnet, die den attraktiven Durchblick durch das Gebäude nicht behindern. Beliebte spontane Laptoparbeitsplätze und Pausenorte sind die Dachterrassen mit gläsernen Brüstungen für den ungehinderten Ausblick ins Grüne, hier, keine 150 m von der Hauptgeschäftsstraße entfernt.
Bevor Dominik Darasz, Bartlomiej Kisielewski und Robert Strzeński 2009 in Krakau ihr gemeinsames Büro HORIZONE Studio gründeten, sammelten sie in Büros in Helsingborg, Berlin und Dublin internationale Erfahrungen. So sind sie denn auch mit den Standards vertraut und Einflüsse von David Chipperfield, aber auch von Justus Pysall, bei dem Kisielewski gearbeitet hatte, sind deutlich zu spüren. Ericpol ist der größte Bau, den sie bisher realisieren konnten. Sie gewannen damit auf Anhieb den SARP Year Award für das beste polnische Gebäude 2015 in der Kategorie öffentliche Bauten und Bürobauten, vergleichbar dem deutschen BDA-Preis, sowie eine ehrende Erwähnung beim polnischen Brick Award 2015.
Denn die aufs Feinste gemauerten Fassaden sind mit handgestrichenen, sehr flachen und hellen Ziegeln des Typs »Kolumba« verkleidet, den Peter Zumthor für das Museum Kolumba in Köln entwickelt hatte.
Trotz der langen raumhohen, horizontalen Fenster, deren Pfosten als Glasschwerter ausgeführt sind, um Diagonalblicke nicht zu stören, sowie der schmalen Loggien (zählen als Feuerüberschlagsfläche, sind aber als Austritte und Raucherecken willkommen), erscheinen die Stirnflächen der Gebäudeflügel als massivere Wände. Dagegen sind die Längsfassaden durch eng getaktete Fenster fast aufgelöst. Deren strenge, repetitive Vertikalgliederung soll an die alten Fabrikbauten erinnern. Tiefes Relief und gleichzeitig Schutz vor schräg einfallendem Sonnenlicht erhalten die Fassaden durch die perforierten Lisenen, hinter denen sich Öffnungsflügel verbergen und die mit Frontblenden in den Farben von Ericpol besetzt sind. Der Sonnenverlauf wurde während der Planung eingehend analysiert, sowohl was die Belichtung, ›
› als auch was den Energieeintrag betrifft. Süd-, Ost- und Westfassaden wurden mit einer Doppelverglasung aus Sonnenschutzglas ausgerüstet, während die Nordfassade, die im Winter größeren Wärmeverlusten ausgesetzt ist, eine Dreifachverglasung erhielt. Perforierte, sonnen- und windabhängig automatisch gesteuerte Jalousien, kernaktivierte Betondecken und das elektronische, lernfähige Energie- und Betriebsmanagement des Gebäudes entsprechen westlichen Standards.
Verglichen mit anderen polnischen Neubauten fällt aber auch die hohe Qualität der Materialität und der tadellosen Bauausführung auf. Die augenfällige Präzision trägt zur signifikanten Eleganz des Gebäudes bei, die sich ansonsten aus der Baukörpergliederung mit ihren Schwüngen und den aufgefächerten Höfen ergibt.
In den Innenräumen herrscht die Nonchalance der IT-Branche. Sichtbetondecken, weiße Gipskartonwände, Büromöbel ohne Anspruch, jede Menge Bildschirme. Man starrt auf die Screens oder entspannt sich auf dem Sofa oder beim Zimmerbasketball, bis man wieder eine neue Idee hat. Hier und da im Flur eine Tafelwand, die beim informellen Stand-up Meeting mit Funktionsschemata, Formeln und/oder Comics vollgekritzelt wird.
Die Herrschaften, die ansonsten die Flurwände »bevölkern«, haben alle irgendetwas mit der IT-Historie zu tun oder sind geradewegs gängigen Computerspielen entsprungen. Kunststudenten haben Gelegenheit bekommen, ihre Vorstellungen zum vorgegebenen Thema an die Wände zu pinseln.
Teeküchen sind in grellen Farben gehalten. In den Treppenhäusern zeigt sich wieder die gestalterische Kraft der Architekten: Mit einfachen Materialien, Beton, Stahl und jeweils einer kräftigen Farbe auf der Treppenwange sowie raffinierter Lichtführung werden aus den als Rettungswegen notwendigen Erschließungselementen fast elegant zu nennende Treppenräume, die zu begehen eine angenehme Alternative zur Aufzugsfahrt sind.
Es ist ohnehin die Stärke des Gebäudes, den Nutzern vielfache Alternativen zur Verfügung zu stellen und die Durchblicke und Ausblicke ins Haus zu holen, um den hier tätigen kreativen Nerds optimale Bedingungen zu bieten, die diese mangels Interesse von selbst nie einfordern würden, die sie aber in ihrer Arbeit mit Wohlgefühl unmerklich unterstützen. Und dies ganz beiläufig, mit Stil und Eleganz, sodass das Gebäude auch als Sitz einer großen Anwaltssozietät Staat machen könnte. Denn wer kann schon wissen, wie es Ericsson in drei Jahren ergehen wird.
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